Zivilrecht

Überraschungsurteil: …und dann ist doch alles ganz anders

Auch nach einer Verhandlung und dabei gegebenen Hinweisen zur Rechtsauffassung des Gerichts kommt es vor, dass erneutes Durchdenken des Falls zu einer neuen rechtlichen Beurteilung führt. Hat sich das Gericht zuvor hinsichtlich seiner rechtlichen Würdigung des Falls festgelegt, kann eine unzulässige Überraschungsentscheidung vorliegen.

In einem Fall hatte das Berufungsgericht durch schriftlichen Hinweis und wiederholt in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, aufgrund einer gefestigten Linie seiner Rechtsprechung die Berufung zurückweisen zu wollen. Im danach ergangenen Urteil hat das Berufungsgericht das Urteil der Vorinstanz dann doch abgeändert. Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte damit Gelegenheit, erneut darauf hinzuweisen, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör (Artikel 103 Absatz 1 Grundgesetz [GG]) es gebietet, der Gegenseite durch einen Hinweis auf eine geänderte Rechtsauffassung Gelegenheit dazu zu geben, Stellung zu nehmen und so zu versuchen, auf die Urteilsfindung des Gerichts Einfluss zu nehmen:

“Durch diese Verfahrensweise hat das Berufungsgericht das Recht der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Art. 103 Abs. 1 GG räumt dem Einzelnen das Recht ein, vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort zu kommen, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können. Zwar muss ein Verfahrensbeteiligter grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag hierauf einstellen. Eine dem verfassungsrechtlichen Anspruch genügende Gewährleistung rechtlichen Gehörs setzt aber voraus, dass ein Verfahrensbeteiligter bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt erkennen kann, auf welche Gesichtspunkte es für die Entscheidung ankommen kann. Erteilt das Gericht einen rechtlichen Hinweis in einer entscheidungserheblichen Frage, so darf es diese Frage im Urteil nicht abweichend von seiner geäußerten Rechtsauffassung entscheiden, ohne die Verfahrensbeteiligten zuvor auf die Änderung der rechtlichen Beurteilung hingewiesen und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben zu haben (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Mai 2011 – XII ZR 86/10, NJW-RR 2011, 1009; BVerfG, NJW 1996, 3202, juris Rn. 22 f.).”
(BGH, Beschluss vom 29. April 2014 – VI ZR 530/12 –, juris)

Der Anspruch auf rechtliches Gehör ergibt allerdings nicht ein Anrecht darauf, dass das Gericht überhaupt seine Rechtsauffassung darlegt. Eine Partei muss alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und sein Vorbringen danach ausrichten (BVerfG, Kammerbeschluss vom 15. August 1996 – 2 BvR 2600/95 –, juris). Ein am Verfahren sorgfältiger Beteiligter muss aber erkennen können, auf welche Gesichtspunkte es bei der Entscheidung ankommen kann (a. a. O.).

Um es zusammen zu fassen: es dürfte wohl darauf ankommen, dass das Verhalten des Gerichts keinen Anlass gibt, sich in falscher Sicherheit zu wähnen. Wird ein Rechtsgespräch nicht geführt oder lässt das Gericht erkennen, dass die Entscheidung noch offen ist, dürfte es keinen Anlass geben, die Verletzung des rechtlichen Gehörs zu rügen. Allerdings sind die in den Verfahrensordnungen niedergelegten Pflichten zu berücksichtigen, die über die bloße Gewährung rechtlichen Gehörs als verfassungsrechtliche Mindestanforderung hinaus gehen. Beispielsweise sieht § 139 Zivilprozessordnung vor, die tatsächlichen und rechtlichen Aspekte des Falls mit den Parteien zu erörtern sowie unter bestimmten Voraussetzungen auch Hinweise mit der Gelegenheit zu weiterem Vorbringen zu erteilen. Wobei auch hieraus nicht folgt, den Parteien bereits das voraussichtliche Ergebnis des Rechtsstreits mitzuteilen.